Dienstag, 8. Januar 2008

Die Ries-Gruppe und die Neckar-Gruppe (etwa 2300-1800 v. Chr.)

Sie fürchteten ihre Toten

Bronzezeitbuch

Rohfassung eines Textes für das Buch "Deutschland in der Bronzezeit" (1996) von Ernst Probst in alter deutscher Rechtschreibung

Im Nördlinger Ries und im oberen Altmühltal bei Treuchtlingen existierte von etwa 2300 bis 1800 v. Chr. die Ries-Gruppe. Sie unterschied sich vor allem durch ihre Grab- und Bestattungssitten von der in Südbayern heimischen Straubinger Kultur. Den Begriff Ries-Gruppe hat 1978 der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrende Prähistoriker Walter Ruckdeschel eingeführt.
Auch die Menschen der Ries-Gruppe sind aus den jungsteinzeitlichen Glockenbecher-Leuten hervorgegangen. Das beweisen die Schädel der Toten aus den Gräbern von Nähermemmingen bei Nördlingen (Kreis Donau-Ries). Die Skelettreste von Nähermemmingen wurden durch den damals in München arbeitenden Anthropologen Emil Breitinger, der später als Professor in Wien wirkte, untersucht. Breitinger ermittelte bei sieben Männern eine Körperhöhe zwischen 1,60 und 1,75 Metern sowie bei sechs Frauen eine Körperhöhe zwischen 1,52 und 1,59 Metern.
Die etwa 30 bis 40 Jahre alte Frau aus dem Grab 23 von Nähermemmingen hatte zu Lebzeiten einen Kieferbruch erlitten. Offenbar stellte ihr ein Medizinmann die nach dem Unfall stärker verschobenen Fragmente des Unterkiefers richtig und sorgte durch äußere Verbände oder Schienen für den Halt in normaler Stellung. Dank dieser Fürsorge ist der Unterkiefer gut verheilt.
Weniger glücklich verlief die Behandlung einer 1,65 Meter großen Frau aus Lauingen (Kreis Dillingen), deren Schädel durch einen Schlag schwer verletzt wurde. Es wurde zwar versucht, die Verletzungsränder des Lochbruchs zu glätten, doch die Betroffene hat diesen Eingriff nicht überlebt. An einem Mann aus dem Grab 16 von Nähermemmingen war eine Schädeloperation (Trepanation) vorgenommen worden.
Die Frauen im Ries und im oberen Altmühltal bevorzugten bezüglich der Kleidung eine etwas andere Mode als ihre gleichzeitigen Straubinger Geschlechtsgenossinnen. Sie trugen im Gegensatz zu letzteren keine Hauben mit reichem Kupferschmuck auf dem Kopf. Das läßt sich an den Funden aus den Gräbern ablesen.
Unter den Tongefäßen der Ries-Gruppe gab es sogenannte Adlerberg-Tassen, die für die in Rheinland-Pfalz, Hessen und im nördlichen Baden-Württemberg verbreitete Adlerberg-Kultur typisch sind. Sie dienten wohl als Trinkgefäß und deuten auf Tauschgeschäfte hin.
Auffällig ist das geringe Vorhandensein metallener Gegenstände in den meisten Gräbern der Ries-Gruppe, die noch kupferzeitliches Gepräge hat. Vermutlich befand sich der größte Teil des Verbreitungsgebiets fernab der Wege des Metallhandels. Nur in einigen reicher ausgestatteten Gräbern von Lauingen (Kreis Dillingen) wurden in stärkerem Maße Kupferobjekte gefunden. Dazu gehörten kleine Kupferdolche aus Männergräbern.
Wie die jungsteinzeitlichen Glockenbecher-Leute waren auch die Männer der Ries-Gruppe mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Auf ihren Gebrauch weisen Armschutzplatten und steinerne Pfeilspitzen hin. Pfeilspitzen mit Schaftdorn wurden in Gräbern von Treuchtlingen-Wettelsheim entdeckt. Die Waffen der Ries-Gruppe haben mehr Ähnlichkeit mit denen der Adlerberg-Kultur als mit jenen der Singener Gruppe, obwohl diese in geringerer Entfernung existierte.
Der Weg vom Ries über den Fluß Egau nach Lauingen markiert möglicherweise die Handelsroute, die in das Gebiet der Singener Gruppe führte. Von dort erwarb man kupferne Ösenhalsringe. Bei den Adlerberg-Leuten wurden Tongefäße, Kupferdolche und verzierte kupferne Scheibenkopfnadeln eingetauscht. Ein Dolch aus einem Lauinger Grab dagegen ist typisch für die Straubinger Kultur.
Eine besonders große Strecke legte vermutlich das Gehäuse einer Schlitznapfschnecke (Fissurella) aus dem Grab 9 einer Frau in Lauingen zurück. Es stammt vermutlich von einer im Atlantik lebenden Art.
Bei der Trageweise des Schmucks hatten die Menschen der Ries-Gruppe teilweise andere Gewohnheiten als die Straubinger Leute. So hängten sie kurze, kupferne Blechröhrchen nicht an Hauben, sondern an Halsketten – und zwar taten dies sowohl Frauen als auch Männer. Weitere Schmuckstücke waren kupferne Ösenhalsringe, Rollenkopf-,
Ruder- und Scheibennadeln, Armringe, Blechfingerringe sowie Knochennadeln und -ringe.
Charakteristische Merkmale der Gräber im Verbreitungsgebiet der Ries-Gruppe sind Steineinbauten und relativ oft vorkommende Mehrfachbestattungen, die vielleicht – wie der Prähistoriker Walter Ruckdeschel vermutet – Familiengrablegen waren. In zahlreichen Gräbern wurden unterschiedliche Arten von Steineinbauten entdeckt, nämlich Steinpackungen, -pflaster, -einfassungen, Beschwersteine, die der Straubinger Kultur fremd gewesen sind.
Die Bestattungssitten der Ries-Gruppe werden einem westlichen Grabsittenkreis zugerechnet, für den Steineinbauten als kennzeichnend gelten. Er behauptete sich in der ersten Hälfte der Frühbronzezeit in dem Gebiet von der Schweiz über Südwestdeutschland (Singener Gruppe) bis zur Mainmündung (Adlerberg-Kultur) und reichte vermutlich bis in das französische Rhônebecken.
Die Männer wurden auf der linken Seite liegend mit dem Kopf im Norden und die Frauen auf der rechten Seite mit dem Kopf im Süden bestattet. Man gab den Verstorbenen nur eine Nadel, die das Gewand zusammenhielt, mit ins Grab. Waffen wurden in Gräbern der Ries-Gruppe seltener gefunden, als es bei der Straubinger Kultur der Fall war. In manchen Gräbern der Ries-Gruppe lagen Rötel- oder Ockerklumpen, die sich zum Schminken des Gesichts oder Bemalen des Körpers eigneten.
Das bisher größte Gräberfeld der Ries-Gruppe wurde auf dem Galgenberg von Lauingen an der Donau entdeckt. Dort kamen insgesamt 45 Gräber mit zum Teil ungewöhnlichen Bestattungen zum Vorschein.
Das Lauinger Grab 39 enthielt lediglich ein Schädelbruchstück. Es stammte vielleicht von einem Menschen, der in der Fremde gestorben, nicht transportierbar war und von dem nur ein Fragment beerdigt wurde. In einem anderen Fall (Grab 40a) hat man einem verstorbenen Mann den Unterkiefer nach dem fünften Zahn abgeschlagen und mit ins Grab gelegt. Bei einer Frau im Grab 41 wurde fast die Hälfte des Schädels vor der Grablegung längs abgespalten und nicht mitbestattet. Dies wird damit zu erklären versucht, daß es sich vielleicht um eine Fremde handelte, deren Verwandtschaft einen Teil der Leiche in ihrer Heimat beerdigen wollte.
Die Gräber 38 und 44 in Lauingen enthielten Bestattungen vornehmer Kleinkinder. Ersteres war mit einem Bronzearmreif und mit einem Knochenring geschmückt, letzterem haben Grabräuber die Bronzebeigaben entwendet. Von Dieben wurden auch andere Bestattungen heimgesucht.
Im Gräberfeld auf den Feldwiesäckern bei Nähermemmingen (Kreis Donau-Ries) lagen in 24 Gräbern insgesamt 40 Skelette in Hockerstellung mit zum Körper hin angezogenen Beinen. Es waren zehn Männer, zehn Frauen, drei Jugendliche und 17 Kinder.
Die 16 Gräber von Treuchtlingen-Wettelsheim (Kreis Weißenburg-Gunzenhausen) hatte man auf unterschiedliche Weise konstruiert. Es gab mit Holzabstützungen versehene Steinkammern mit -pflasterartigem Boden und Steinpackungen, die ehedem die Kammerdecke bildeten, oder Gräber, bei denen Steine nur für die Außenwände und als Belag von Teilflächen des Bodens dienten. In einer 4,70 mal 4,80 Meter großen Steinkammer hatte man mindestens 15 Menschen beigesetzt, darunter drei Kinder. Dies ist die umfangreichste Mehrfachbestattung der Frühbronzezeit in Süddeutschland. Fünf andere Tote – eine Frau, drei Männer, ein Kleinkind – ruhten in einem anderen Grab unter einer gemeinsamen Steinpackung von 5,30 Meter Länge. Als Einfassung dienten bis zu 60 Zentimeter große Kalksteinplatten.
Der Prähistoriker Walter Ruckdeschel betrachtet die Steinpackungen und -einfassungen sowie die Beschwer-steine als Hinweise für eine starke Totenfurcht. Deswegen seien möglicherweise auch Manipulationen an Leichen und deren Verschnürungen vorgenommen worden.

Die Neckar-Gruppe

Weder der Ries-Gruppe noch der Singener Gruppe und auch nicht der Adlerberg-Kultur sind Gräber mit Steineinbauten von Weinstadt-Endersbach (Rems-Murr-Kreis), Gäufelden-Tailfingen (Kreis Böblingen) sowie Gerlingen, Remseck-Aldingen, Remseck-Hochberg (alle drei im Kreis Ludwigsburg) zuzuordnen. Dazu gehören vielleicht auch Gräber von Stuttgart-Bad Cannstatt, Heilbronn-Horkheim, Lauffen und Gemmrigheim.
All diese Gräber im Vorfeld der Singener Gruppe repräsentieren eventuell eine Mischzone, wenn nicht sogar eine weitere eigenständige Gruppe aus der älteren Frühbronzezeit. Letztere sollte nach einem Vorschlag des Stuttgarter Prähistorikers Rüdiger Krause aus dem Jahre 1988 als Neckar-Gruppe bezeichnet werden.
In Remseck-Aldingen kam das nach dem Gräberfeld von Singen am Hohentwiel zweitgrößte Gräberfeld der südwestdeutschen Frühbronzezeit zum Vorschein. An ersterem Fundort wurden 37 Tote in 34 Gräbern beerdigt, in letzterem mehr als 100. Die meisten von ihnen hat man einzeln in Erdgruben bestattet, nur wenige erhielten Gräber mit Steinpflaster, -umfassung und -bedeckung.
In Grab 26 von Remseck-Aldingen sind im Laufe der Zeit vier Tote zur letzten Ruhe gebettet worden. Zunächst hat man darin einen Mann bestattet, später eine Frau, derentwegen die Skelettreste des Mannes beiseitegeräumt wurden. In dasselbe Grab sind später zwei Kleinkinder gelegt worden. Ob es sich bei den vier Menschen um eine Familie handelte, weiß man nicht, ist jedoch naheliegend.
Als Gewandverschluß einiger Frauen in Remseck-Aldingen diente eine verzierte kupferne Rudernadel. Manche der dort begrabenen Frauen trugen Hals- und Armringe oder Armspiralen aus Kupfer sowie Knochenringe. Männer stattete man für das Jenseits mit einem Dolch, einer unverzierten Nadel, Armschmuck oder einem Knochenring aus.
Ein junger Mann in Grab 15 und ein Mädchen in Grab 13 von Remseck-Aldingen lagen in Gräbern, die mit Steinen eingefaßt und mit Steinplatten bedeckt waren. Dem jungen
Mann hatte man einen verzierten Dolch aus Zinnbronze in die Hände gelegt. Außerdem gehörten eine Kupfernadel und ein Knochenring zu seinen Grabbeigaben. Im Grab des Mädchen fanden sich eine Rudernadel, ein Drahtarmring aus Kupfer, drei Knochenringe, ein durchbohrter Knochenkopf und ein Zahnanhänger.
Die beiden aufwendiger angelegten Gräber der zwei jungen Leute von Remseck-Aldingen und deren reichere Grabbeigaben lassen darauf schließen, daß es im Gebiet der Neckar-Gruppe arme und reiche Menschen gegeben hat. Andere Tote hatte man ohne Metallschmuck oder -geräte und mitunter nicht einmal mit Knochenschmuck bestattet. Auf Standesunterschiede deuten auch besonders tiefe Grabgruben und entfernt von den übrigen Bestattungen liegende Gräber mit den Steineinbauten hin.
Nach modernen Altersdatierungen zu schließen, sind in Remseck-Aldingen zwischen etwa 2250 und 1950 v. Chr. Bestattungen vorgenommen worden. Die Metallhandwerker jener Gegend haben anfangs noch unlegiertes Kupfer verarbeitet und daraus Werkzeuge, Waffen und Schmuck gegossen. Der erwähnte Dolch aus dem Grab des jungen Mannes, zählt zu den beiden ersten Funden des Gräberfeldes, die bereits aus Zinnbronze bestehen. Er hat einen Zinnanteil von 5,75 Prozent.

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